die labeltheorie.
Ende Mai: Während meine Familie in der Schiffskabine schläft, sitze ich auf ein paar Treppen an Deck, schaue in die nächtliche See, rauche und verarbeite nicht ganz unbewusst die Geschehnisse, Eindrücke und Emotionen der letzten Wochen. Die Reise alleine nach Griechenland, die Zeit dort und mein doch ziemlich verändertes Wesen seit den Ereignissen des letzten Jahres. Vor mir auf Deck parken ein paar Autos, zufälligerweise drei graue BMW, jeweils mit deutschem, italienischem und griechischem Kennzeichen. Während ich diese drei Autos so betrachte, fällt mir auf, dass die Wertung dieser Autos aufgrund des jeweiligen Kennzeichens ziemlich unterschiedlich ausfällt und dass es mit uns Menschen genauso ist.
ein gedanke.
Um bei dem Auto-Beispiel zu bleiben: Nehmen wir mal an, wir haben drei identische Autos. Farbe, Ausstattung, Zustand, Laufleistung usw. ist bei allen Autos bis aufs Detail genau identisch, lediglich die Kennzeichen unterscheiden sich. Ein deutsches, ein italienisches und ein griechisches. Ob wir wollen oder nicht: Wir sprechen den Fahrzeugen aufgrund des Kennzeichens einen anderen Wert zu: Während das Deutsche Auto als hochwertiger, gut gewartet und auf guten Straßen bewegt scheint, spricht man den anderen beiden aufgrund der Straßenverhältnisse und der Art, wie in diesen Ländern gefahren und geparkt wird, einen deutlichen niedrigeren Wert zu. Nochmal: Die Autos sind komplett identisch.
Diese subjektive Wahrnehmung setzt sich jedoch bei Menschen fort - und das nicht nur aufgrund der Nationalität oder Herkunft, sondern aufgrund unterschiedlichster Attribute, die wir in der Regel unabhängig jeglicher Fakten einer Person zuschreiben. Dazu kommt, dass diese "Labels" zu weiteren kleineren "Labels" führen, die man unbewusst an sich trägt. Das fängt bei "Ich bin Berufsfotograf." an, geht über "Ich fahre BMW." und erreicht seinen Zenit bei "Ich bin Grieche." - klingt seltsam? Denk mal über diese Sätze etwas genauer nach.
berufsfotograf:in.
Man geht automatisch davon aus, dass diese Person Fotografieren kann, überragende Technik besitzt und natürlich von jedem Detail rund um die Fotografie Ahnung hat. Viele degradieren sich selbst in einem Gespräch und erwähnen spätestens im zweiten Satz, dass sie ja nur Hobbyfotogaf:innen sind, trauen sich kaum zu widersprechen oder reden ihre eigene Arbeit klein - der schlimmste Punkt aus meiner Sicht. Ein normaler Austausch zwischen zwei Menschen, die sich die gleiche Leidenschaft teilen, ist da leider nicht mehr möglich.
BMW.
Sei ehrlich, denkst du nicht automatisch an Raser, Lichthupe und generell rücksichtsloses Fahren? Ich kann fahren wie ich will, während mich der eine direkt als unsympathisch einstuft, schließt der nächste Dorftrottel im Geiste Bruderschaft mit mir, weil er ja auch einen BMW fährt. Schade nur, dass meine Autos nichts über meine Persönlichkeit oder meinen Fahrstil aussagen.
grieche
Das heikelste und mieseste Beispiel. Wir Griechen "genießen" in Deutschland einen gewissen Clown-Status. Wir sind lustig, an sich ganz sympathisch und in der Regel schallt jedes Mal, wenn von mir gesprochen wird, irgendeine Scheiße mit Tzaziki, Gyros oder Ouzo entgegen, inklusive schlecht imitiertem Dialekt. Manch einer geht so weit, dass er mich am Telefon mit "Ela re" und "Alles kala?" begrüßt, weil ich das ja als Grieche toll finden muss, wenn irgendwer irgendwas auf griechisch sagt. Ein weiteres Phänomen ist die Tatsache, dass mir die meisten beim ersten Kennenlernen ihre Lieblingsspeisen vom Griechen um die Ecke aufzählen und dass "wir Griechen" ja so schrecklich gastfreundlich sind, weil der Jianni, Jiorgo oder Dimi um die Ecke jedes Mal nach dem Essen einen Ouzo spendieren. Für meine guten Freunde.
Mein ehemaliger Chef, der seine Doktorarbeit in Philologie geschrieben haben muss, hat mir mal erklärt, dass zum Ausgleich (!) mein Mitarbeiter Chinese ist, da sich in seiner kleinen Welt der fleißige Asiate den faulen Griechen ausgleicht. Wissen macht Ah. Zeitgleich kommt bei vielen Gesprächen mit deutschen Freunden das Argument "Du bist doch eigentlich Deutscher.", während mir mein türkischer Freund zeitgleich versucht zu erklären, dass Griechen und Türken ja eigentlich ein Volk sind, untermalt dies jedoch ausschließlich mit rein kulinarischen Argumenten. "Du als Grieche..." ist ein geläufiger Satzanfang und schon in der Grundschule haben einige Lehrer keine Gelegenheit ausgelassen, mich beim Scheißebauen mich mit "Hier macht man sowas nicht!", stets gefolgt von "...weiß ja nicht wie das da ist wo du herkommst." zurecht zu weisen - damit die rassistische Intention des Gesprochenen auch klar wird.
weg damit.
Beispiele dieser Art gibt es unendlich viele, aber diese kleine Übersicht reicht, um grob zu verstehen, was ich meine. Menschen setzen einem ein eigenes Label auf und nehmen einen rein subjektiv wahr, hören in der Regel aber nicht hin, was wirklich Sache ist. Mit der Zeit akzeptiert man jedoch auch die angeklebten Labels und verhält sich entsprechend - unabhängig davon, ob sich das in unterbewusstes einfügen in die Rolle oder einer Übersensibilisierung zeigt. Ironischerweise fragt auch niemand danach, wie ich zum Beispiel zu gewissen Themen oder Umständen stehe, ob ich mich als Deutscher oder als Grieche sehe, in was für einer Sprache meine Gedanken sind oder ob ich andere Autofahrer:innen und Fotografierende werte oder nicht. Das will ja auch niemand hören.
Mir ist bewusst geworden, dass ich keinen Einfluss habe, wie mich jemand sehen will, sehr wohl aber, ob ich diese Labels an mir kleben lasse oder mich dagegen wehre. Zugegebenermaßen fehlt mir manchmal die Energie dafür, weil ich mir unsicher bin, ob es den Aufwand wert ist. Es interessiert ja auch die wenigsten, ob ich als BMW-Fahrer wirklich wie ‘ne gsengdde Sau fahre oder ob ich als Grieche die Türken auch als mein Volk sehe. Die paar Male, an denen ich versucht habe, gewisse Umstände klarzustellen, brachten rein gar nichts: Am Telefon werde ich immer noch mit "Ela re, alles kala?" begrüßt, auf Instagram bekomme ich lauter "lustige" Scheiße von Idioten mit aufgeklebtem Schnauzer, die laut “Malaka” rufen zugesandt und für manchen bin ich nach wie vor "voll integriert" und Deutsch, sodass man ungeniert über andere Ausländer schimpfen kann.
Von was ich mich aber gelöst habe, ist das unbewusste Akzeptieren dieser Labels und das davon abgeleitete Verhalten - das liegt in meiner Macht. Ich alleine bestimme über mich und mein Label und sonst niemand. Zwischen den Zeilen steht klar und deutlich, wie ich zu gewissen Sachverhalten stehe und es tut mir wirklich leid, wenn sich so mancher vor den Kopf gestoßen fühlt, wenn er etwas liest und nicht hört - den gesagt habe ich alles schon mehrmals. Geschriebenes triggert oft andere Synapsen im Hirn.
freiheit.
Ein stückweit ist das ganze ja ganz normales menschliches Verhalten. In unserer Jugend hatten wir alle schon eine Beziehung, nach der wir feststellen mussten, dass die Person einfach beschissen war - man sich in der gemeinsamen Zeit jedoch selbst alles schöngeredet hat. Trotzdem sind wir erwachsene Menschen, die sich gegenseitig respektieren sollten - und da ist das genau hinschauen und zuhören angebracht.
Obwohl diese Theorie nur ein Gedankenspiel ist, fühle ich mich deutlich befreiter, seit ich mich gedanklich von diesen Labels gelöst habe. Ich könnte gefühlt ganze Bücher füllen mit weiteren Beispielen und Gedankengängen diesbezüglich. Das hier war mein Paradigma. Ich bin wie ich bin, unabhängig davon, wie du mich sehen möchtest - wenn ich mich nicht mehr wohl fühle, bist du eben nicht mehr in meinem Kreis. Mit Sicherheit findest du in deinem Bekanntenkreis jemanden, dem du vielleicht Unrecht tust oder du fühlst dich selbst manchmal unverstanden aus ähnlichen Motiven heraus. Mein Ziel ist es, dich zum nachdenken zu bringen.